Jáchym Topol (geb. 1962)
1985 Mitbegründer des Samizdat-Literatur-Magazins Revolver Revue, bis 1995 Chefredakteur 1988 Tom-Stoppard-Preis für inoffizielle Literatur 1989-1991 Reporter für die Wochenzeitung Respekt 1991 Gedichtband "Miluju t_ k zblázn_ní" / "Ich liebe dich bis zum Irrsinn" (ursprünglich Samizdat 1988) 1992 Gedichtband "V úterý bude válka"/ "Am Dienstag gibt es Krieg" 1994 Roman "Sestra"/"Die Schwester" 1995 Egon- Hostovský-Preis für das beste Buch des Jahres 1995 Prosa "Výlet k nádra_ní hale"/ "Ausflug zur Bahnhofshalle" (ursprünglich Revolver Revue, Nr.22, 1993) 1995 Prosa "And_l" / "Der Engel" |
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" Zwischen Kirche und Western" Jáchym Topols Lyrik Diese Gedichte sind wie Rocksongs. Sie sind eigenwillig und direkt. Ebenso wie Rocksongs sind sie ein unmittelbarer Ausdruck von Stimmung, Eindrücken und Gefühlen. Sie sprechen vom Leben in der Stadt, von Alkoholexszessen, von Liebe und modernen Helden. Reime scheinen dem Zufall überlassen zu sein und Umgangsprache überwiegt. Worauf es ankommt, ist Ehrlichkeit. Und tatsächlich wurde Jáchym Topol zuerst in den 80-er Jahren als Texter der Rockbands Národní und Psí vojáci berühmt, zuletzt wurden seine Texte von der Sängerin Naeva vertont. Doch Topols Lyrik kann auch ohne musikalische Untermalung bestehen. Topols Bezug zur Rockmusik und der eher prosaische Charakter seiner Gedichte, v.a. aber die Verwendung von Slang, sind für die moderne tschechische Lyrik untypisch. Auch inhaltlich geht Topol eigene Wege: in seinem Werk orientiert er sich weniger am traditionellen Kanon als vielmehr an Abenteuerromanen und Kinderbüchern, an Winnetou und Moby Dick und den Poeten der Beat-Generation. Als weitere wichtige Einflüsse wären Kino, Kirche und Kneipen zu nennen. Aus solchen recht unterschiedlichen Elementen konstruiert sich Topol seine äußerst homogene Jungswelt, in der Autoritäten keinen Platz haben und Frauen nur als Liebesobjekte auftauchen. Eine Ursache für diese Sicht der Welt liegt in Topols Biographie: 1962 geboren, wuchs er in einer Schriftsteller- und Dissidentenfamilie auf. Nachdem sein Vater die Charta 77 unterschrieben hatte (er selbst unterzeichnete sie neuen Jahre später), war Jáchym Topol starken Repressalien seitens der Regierung ausgesetzt. Das Gymnasium konnte er noch abschließen, ein Universitätsstudium war jedoch aus politischen Gründen bereits nicht mehr möglich. So blieben ihm nur Gelegenheitsjobs und ein Leben am Rande der Gesellschaft. Die Nische, in der Topol sich bewegte, war die Underground-Szene mit ihren selbstverlegten Zeitschriften und Büchern. Seine Outsider-Perspektive drückt sich auch in seiner Lyrik aus, deren Schauplatz die verrauchten Gaststätten, die dreckigen Straßen der Prager Peripherie und heruntergekommene, unaufgeräumte Zimmer sind. Aus dieser Welt des Stillstands und der Langeweile gibt es für den, der nicht emigrieren will, kein Entkommen. In einem frühen Gedicht formuliert Topol spielerisch die Möglichkeiten, die das Leben für Nonkonformisten bereit hielt: "Was kann man in diesem Loch machen?/ Ameisen töten?/ Fliegen?/ Motten?/ auf die Sterne scheißen?/ (.... ) also onanieren?/ Schon wieder?/ Alles andere ist verboten./ (...) Onanieren/ und ständig schreiben" ("Die Kriegslyrik"). Der einzige Ausweg aus dieser Misere ist die Flucht in Abenteuerphantasien, ironische Distanzierungen oder große Gefühle, denn drum herum "passiert überhaupt nichts". Die am eigenen Leib erfahrenen Absurditäten des sozrealistischen Alltags führen jedoch nicht zu gesellschaftlichen Analysen - hierin ist Jáchym Topol ein typischer Vertreter seiner Generation, deren oppositionelle Haltung nicht zu parteipolitischen Engagement führte. Ihr Widerstand gegen das Regime bestand eher darin, die Geschehnisse um sich herum einer genauen Beobachtung zu unterziehen, so offen wie möglich über sie zu berichten und vor allem Überlebensstrategien zu entwickeln. Topol besitzt für diese Art zu leben ein besonderes Sensorium, nirgendwo wird sie so authentisch beschrieben wie in seinen Gedichten und in seiner Prosa, insbesondere dem Roman "Sestra"/"Die Schwester". Er wehrt sich gegen die objektiv als schlecht erfahrene Welt mit einer gesteigerten Subjektivität. Die Welt der Gedichte stimmt weitgehend mit der bekannten Prager Realität überein, aber es ist der persönliche Standpunkt Topols, der sie zum lyrischen Thema macht. Es sind seine Empfindungen und seine Sichtweise, die sich hier manifestieren. Wie in einer Theaterinszenierung macht Topol Prag zur Bühne seiner Selbstdarstellungen. Mal als Indianer, mal als Dichter der Romantik, mal als Verrückter oder Kämpfer, meistens aber als eisamer Trinker durchstreift er die Stadt. Diese Selbststilisierungen zeichnen sich alle durch ein hohes Maß an Exaltiertheit aus. In dem Moment, in dem er eine dieser Rollen übernimmt, macht er sich deren Gefühle ganz zu eigen. Wie bei einem echten Schauspieler kann man kaum noch unterscheiden, wo die Grenze zwischen Jáchym Topol, dem Schrifsteller, und dem lyrischen Ich der Gedichte verläuft. Die Überspanntheit der Gefühle wird zum Indikator ihrer Wahrhaftigkeit. Nicht umsonst gehören psychische Deformationen, insbesondere die Figur des Schizophrenen zu den Konstanten in Topols Werk. Seine eigene Erfahrungen mit der omnipotenten Staatsmacht und der Polizei als ihrem Handlanger führen zu einem permanenten Gefühl der Verfolgung, das sich in vielen der Gedichte artikuliert. Wollte man Gedichte wie "Dein ist das Reich..." oder "Genau jetzt" jedoch nur als tagebuchartige Aufzeichnungen lesen, wäre dies dennoch verfehlt. Die hier in Zusammenarbeit mit dem Autor zusammengestellten Gedichte stellen eine repräsentative Auswahl aus den Büchern "Miluju t_ k zblázn_ní"/"Ich liebe dich bis zum Irrsinn" (bereits 1988 im Samizdat erschienen, Neuauflage 1991) und "V úterý bude válka"/"Am Dienstag gibt es Krieg" (1992) dar. An ihnen lassen sich sowohl Topols wandelnde Einstellung zur Realität als auch das Auftauchen neuer Themen feststellen, die durch die politischen Veränderungen in der Tschechoslowakei und seine Tätigkeit als Reporter für die neugegründete Wochenzeitung Respekt bedingt sind. Als ob durch die "samtene" Revolution eine Käseglocke hochgehoben worden wäre, wird seine Welt plötzlich so aufregend, so gewaltsam und schnell, wie sie es vorher nur im Film war. Die größere Intensität aber auch die größere Gefährlichkeit des Lebens nach der Wende führt dazu, daß Topol sich zunehmend mit existenziellen Fragestellungen beschäftigt. Sein bevorzugtes Bild, um den neuen, auf andere Weise schwierigen Alltag zu beschreiben, ist der Krieg. Topols Krieg ist ein archaischer Kampf, in dem es Gut und Böse gibt, in dem die Gegensätze roh aufeinanderprallen. Angesichts permanenter Bedrohung und Unsicherheit formulieren die Gedichte immer öfter den Wunsch nach einer höheren Gewißheit, egal ob sie von Gott oder einer höheren Intelligenz verkörpert wird. Ein Motiv, das sich durch beide Gedichtbände zieht, ist der des Films, den Topol als Beispiel für die Vermischung verschiedener Realitätsebenen einsetzt. Besonders die Indianerfilme seiner Kindheit prägen seine Vorstellung davon, wie ein Leben aussieht, das nicht alltäglich, sondern aufregend und gefährlich ist. Filme sind jedoch nicht nur Lieferanten von Bildern. Sie dienen auch als Erzählmuster, durch das sich die Bruchstücke der Realität, die auf den Einzelnen einstürmen und ihn unter sich zu begraben drohen, zu einem sinnvollen Ganzen verbinden. Gedichte wie "Am Dienstag gibt es Krieg" und "Birma" folgen in ihrer Handlung dem Modell von Agententhrillern oder Dokumentarfilmen. Auch in seiner Prosa mischt Topol filmische und literarische Stilmittel, wie überhaupt seine Texte die Grenzen zwischen den Gattungen auflösen: manche der späten Gedichte erinnern an Reportagen, während Passagen aus "Sestra" wiederum durch ihre lyrischen Qualitäten auffallen. Unabhängig von der Form, der er sich gerade bedient, entwickelt sich Topol immer mehr zu einem Geschichtenerzähler. Die vorliegenden Gedichte präsentieren die verschiedenen Facetten von Topols Werk. Alle sind sie jedoch von einem Bestreben nach Authentizität bestimmt - getreu Topols eigener Forderung, der Dichter solle "die Welt in sich und um sich scharf beobachten und über diese seine Beobachtungen die Wahrheit schreiben". |